Die größte Supermarktkette Neuseelands »Countdown« testet seit einem Jahr in zehn Filialen die „Quiet Hour“. Ausschlaggebend für diese Idee war eine Mitarbeiterin mit autistischem Sohn. Diese Idee traf Bedürfnisse und wird gleichzeitig kontrovers diskutiert. Ein Anstoß zum Nachdenken. (Link zum Artikel: Autismus - Supermarkt führt Extra-Stunde ein SÜDDEUTSCHE)

Shopping soll Erlebnis sein

Auf dem Plan werden »Retail-Erlebnisse« im Supermarkt zunächst perfekt inszeniert. Licht navigiert den Kunden, aktiviert und beruhigt dort wo es gewünscht ist und lässt die Produkte begehrlich erscheinen. Gut geplante audio-, olfaktorisch und haptische Impulse sollen das Ganze im Bestfall zum Neuroshopping-Erlebnis abrunden. Die Realität ist oft eine andere. Nach den Planungs- und Bauphasen entwickelt das ehemals bis ins Detail geplante Erlebnis eine gewisse Eigendynamik. Meist geschuldet durch notwendige Kompromisse der vielen Projektbeteiligten und Interessengruppen. Erlebnisse mit Relevanz bauen darauf auf, dass wirklich ALLE »Rädchen« perfekt ineinander greifen. Die letzten Jahre hielt der Digitalisierungstrend Einzug in unsere Einkaufswelt. In vielen Bereichen beschlich das Gefühl, das bewegte Bilder zu Musik und medialer Dauerbeschallung zusätzlich integriert werden müssten um mithalten zu können beziehungsweise »Erleben« auf allen Ebenen zu garantieren.

Auch ohne Reizüberflutung findet ein Erleben statt. Das aber in einer anderen Qualität. Zu keiner Zeit haben wir so viele gesundheitliche Probleme durch Dauer-Informations-Beschuss verzeichnet wie es aktuell der Fall ist. Bilderfluten via Social Media, omnipräsente Marketing-Kampagnen auf allen Kanälen dazu ständige Erreichbarkeit. Kontinuierlich auf Empfang. Selbst für „Nicht-Autisten“ in urbanen Lebensräumen ist eine Reduktion anziehend und wohltuend.

Gesellschaftlicher Wandel

Wir beschäftigen uns im Augenblick intensiv mit der Zukunft des Retail. Unsere Handelslandschaft ändert sich stark. Die Ansprüche von Konsumenten sind extrem hybrid. Letztlich orientieren sich unsere Konsuminteressen an Trends, die durch gesellschaftliche, technische und strukturelle Entwicklungen hervorgebracht werden. Die Geschwindigkeit, in der neue Strömungen entstehen wurde durch neue Kommunikationsmöglichkeiten stark beschleunigt. Wir erleben im Augenblick eine Gesellschaft, die eine tief greifende »Kulturalisierung des Sozialen« betreibt. Diese Mechanismen sind in Adreas Reckwitz Buch »Gesellschaft der Singularitäten« anschaulich beschrieben. »Kultur ist immer dort, wo Wert zugeschrieben wird« so seine Definition. Und das, was den Wert erhält affiziert. Zieht Menschen an. Durch den Wandel verschieben sich die Werte der Konsumenten und damit die Trends. Konstruierte Erlebnisse allein sind schon lange nicht mehr Garant für steigende Umsätze. Es geht vielmehr um authentischen Austausch zwischen Handel und Konsument. Austausch bedeutet mehr als eine „One-Way-Kommunikation“ durch geplante Steuerung der Kunden und deren Verhalten.

Neue Herangehensweisen in der Planung

Um den schnellen Wandel zu verstehen und mit ihm arbeiten zu können ist es unglaublich hilfreich eine übergeordnete Perspektive einzunehmen. Zu verstehen wie gesellschaftliche Strömungen und Trends entstehen, welche Mechanismen greifen und wie sie sich entwickeln. Ein Plädoyer an alle Gestaltenden in diesem Feld, Eckpunkte aus der Kulturwissenschaft und Soziologie einzubeziehen. Schließlich ist der Einzelhandel ein Aspekt des gesellschaftlichen Lebens. Wir sind so in der Lage die Bedürfnisse derer, für die wir gestalten, entwerfen und umsetzen sicher zu erkennen. Der Standpunkt einer Mutter mit autistischem Kind sollte Inspiration sein unbekannte Sichtweisen zu prüfen. Es beinhaltet viel Potenzial zu neuen, interessanten Ansätzen zu gelangen. Verstehen wir das Prinzip von Kultur, Valorisierung und Trend können wir Meinungen, Kontroversen und Diskussionen als Ressource nutzen noch bessere Lösungen zu erzielen. Am Beispiel aus Neuseeland wäre die Beteiligung des Nutzers – z. B. durch Mitgestaltung – eine Möglichkeit für Unternehmen Loyalität und Vertrauen aufzubauen. Reduktion generiert neue Formen von Retail-Erlebnissen, die für viele Zielgruppen attraktiv sind.

Weg vom »Hell und Laut Konsumtempel« hin zu einer Freizeitdestination mit gesellschaftlichem Anspruch könnte eine Lösung sein, die unsere Handelslandschaft zusätzlich bereichert. Es gibt hier leider nicht das allgemeingültige-Rezept für jedermann. Es geht um Mischung und Synergien, denn unterschiedliche Ansätze können nicht nur koexistieren, sondern sich gegenseitig bereichern.

Kristina Kalisch für becomehuman