Achtsamkeit ist Trend in Zeiten des Umbruchs. »Mindfulness« soll uns glücklicher, zufriedener und leistungsfähiger machen. So zumindest die oftmals zitierten Versprechen. Das Interesse an diesem Thema ist nach wie vor riesig, was wir in persönlichen Gesprächen selbst immer wieder erfahren. Dennoch hat jede Medaille zwei Seiten. Wir möchten uns mit den Kehrseiten beschäftigen und auf diese aufmerksam machen. Für uns eine Herzensangelegenheit. Um einer Kommerzialisierung beziehungsweise einer »betriebswirtschaftlichen Vergegenständlichung« etwas entgegenzusetzen, halten wir es für wichtig darüber zu diskutieren und vielleicht so ein Stück weit aufzuklären. Je mehr Mitarbeiter über die eigentliche Essenz von Achtsamkeit wissen, desto weniger werden sich diese als Werkzeug zur Effizienzsteigerung aufzwängen lassen.

Begriffe fixieren

Dieses Thema ist überaus komplex. Wirklicher Nutzen hängt maßgeblich von einem grundlegenden Verständnis von Achtsamkeit ab. Die meisten Erläuterungen von Achtsamkeit lassen uns diese als etwas Begriffliches erscheinen. Wir setzen damit quasi einen künstlichen Bezugspunkt, der sich »Achtsamkeit« oder »Mindfulness« nennt. Ein Begriff grenzt ab, damit etwas erklärt werden kann. Achtsamkeit selbst ist Erleben ohne klar zu definierende Grenzen. Die Achtsamkeit bringt uns zurück auf das Wesentliche, ins Hier und jetzt, die gegenwärtige Situation im Leben. Ähnlich einem inneren Wachposten, der registriert, wenn wir gedanklich abschweifen oder uns in inneren Parallelwelten verheddern.

Achtsamkeit als Methode

Achtsamkeit ist Teil eines Methodenkomplexes, mit dem Ziel in eine offene Präsenz zu finden. Einen Zustand, in dem es möglich ist das eigene Handeln – geprägt von den Qualitäten der Offenheit, des Mitgefühls, der Freude und des Gleichmuts – ganz in den Dienst der jeweiligen Situation zu stellen. Dies bedeutet, zu jederzeit aus der Dynamik des Lebens heraus angemessen zu reagieren. Im Fluss zu sein. Je freier oder präsenter wir werden, desto mehr werden wir zum Diener der aktuellen Situation. Es geht hierbei nicht um die Freiheit von »Ego-Ideen« oder die Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit, sondern darum, hinsichtlich der Herausforderungen des Lebens entspannter zu werden. Ohne Stress, beziehungsweise einen großen Kraftakt zu entscheiden was angebracht und sinnvoll ist.

Mitfließen

Nur ein kleiner Teil des Verständnisses von Achtsamkeit kann intellektuell »formuliert« werden. Der weitaus größte Teil des Trainings findet im Nicht-Begrifflichen statt und erfordert sehr präzise Erklärungen. Missverständnisse schleichen sich schnell und unbemerkt ein. Wir hier im Westen sind an Leistung gewohnt. Achtsamkeitsmeditation oder andere Übungen werden schnell zu einer Aufgabe, in der wir etwas zu erreichen versuchen. Schlimmstenfalls mit Ausdauer und Druck. Aber genau das Gegenteil ist der richtige Weg. Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu tun. Es geht darum, die Dinge einfach zu erkennen und so anzunehmen wie sie sind. Es verhilft uns zu einer positiven Einstellung hinsichtlich unseren aktuellen Rahmenbedingungen, sei es beruflich oder privat. Wir kategorisieren die Dinge, die auf uns zukommen mit zunehmender Präsenz immer weniger in »gut« und »schlecht«, sondern sind in der Lage sie einfach anzunehmen und angemessen zu handeln. Eine wunderbare Beschreibung des Zustands der offenen Präsenz ist Folgende:

„Wer sich gedanklich nicht in der Vergangenheit befindet, die Gegenwart nicht vergegenständlicht und sich nicht in die Zukunft projiziert ist offen und präsent.“

Achtsamkeit ist Teil eines ganzheitlichen Ansatzes, der unser gesamtes Leben in allen Ebenen durchdringt und sich nicht auf Einzelaspekte richtet. Eine Achtsamkeit-Offensive zum Selbstzweck eines Unternehmens, die lediglich einer Organisation intellektuell übergestülpt wird, kann also nicht funktionieren. Sie verfehlt grundlegend das Ziel. Damit wir den Nutzen der ein oder anderen Achtsamkeit-Kampagne schon im Vorfeld abschätzen können, ist die Frage der Absicht zentral. Geht es vorrangig um Umsatzerhöhung, effizientere Prozesse und Selbstoptimierung oder ist es eine Chance für meine persönliche Entwicklung?

Kristina Kalisch für becomehuman